Sonntag, 17. April 2016

Rodewald-Rätsel



Die tödlichen Überraschungen und Rätsel von Rodewald


Eine kleine (fast) signifikante Fallzahl von MM-Patientinnen in einer Erdölgemeinde



Die Gemeinde Rodewald der Samtgemeinde Steimbke (Landkreis Nienburg/ Weser)


                               Quelle: Kieschke/ Sirri, S. 6.


Die beobachtete Häufung von Leukämiefällen bei Kindern

Wie schon bereits in anderen Regionen sorgten im niedersächsischen Rodewald (Landkreis Nienburg/ Weser) aufmerksame Bürger für eine sorgfältige Analyse von Krebsdaten und machten damit ein erhöhtes Krebsrisiko in ihrem Wohnort zu einem politischen Thema. In diesem Fall war es das Zusammentreffen ganz unterschiedlich betroffener Beteiligter, nachdem fünf Jahre zuvor ein erster Versuch, die Rodewalder Krebszahlen vom Landkreis Nienburg beurteilen zu lassen, nicht weiter verfolgt worden war. 

Im konkreten Fall trafen der ehemaligen Rodewalder Bürgermeister Hans-Joachim Zilke, der selbst an Leukämie erkrankt war und dem wie auch einigen seiner Mitbürger Häufungen von Krebsfällen in seiner überschaubaren Gemeinde aufgefallen waren, mit Alexa Höber zusammen. Diese engagierte investigative Journalistin ging für eine NDR-Sendung den einzelnen Fällen nach und konnte schließlich dem Landesgesundheitsamt in Hannover eine Liste von nachgewiesenen Leukämiefällen vorlegen. Dabei wurde sie fachlich von einer weiteren engagierten Umweltaktivistin, Kathrin Otte, unterstützt, die im Gemeinnützigen Netzwerk für Umweltkranke (GENUK) arbeitet.

Auf diese Weise wurde sogar eine breitere Öffentlichkeit auf eine Häufung von Krebserkrankungen in einer kleinen Gemeinde im Herzen Niedersachsens aufmerksam, in der nur etwa 2.500 Einwohner leben. Man kann also vom Auffinden einiger weniger Stecknadeln in einem einem ganz kleinen Heuhaufen sprechen, und zwar auf einer fast unübersehbar großen Wiesenfläche mit einer Vielzahl ganz ähnlicher "Heuhaufen".

Die mediale Aufmerksamkeit begann am Montag, dem 21. September 2015, als der NDR in der Sendung "Markt" den Beitrag "Ölförderung: Gefahr für die Anwohner?" ausstrahlte. Darin berichtete der Fernsehsender über eine absolut gesehen recht kleine Abweichung der Krebserkrankungen vom Durchschnitt in einer Altersgruppe, die von Krebserkrankungen erst ganz selten betroffen ist. Der harte Kern bildeten mindestens fünf Menschen im Alter von unter 40 Jahren, die in der Gemeinde Rodewald innerhalb von zehn Jahren an Leukämie erkrankt waren.

Das bedeutet - relativ gesehen - ein erhöhtes Risiko verglichen mit dem Landesdurchschnitt, da Krebs fast ausschließlich eine Krankheit älterer Menschen ist. Deswegen hätte man bei einer durchschnittlichen Häufigkeit nur maximal eine Neuerkrankung erwarten müssen. Das bestätigt der Autorin aufgrund ihrer ermittelten Fallzahl ein Statistiker des niedersächsischen Landesgesundheitsamtes, als er konstatierte: "Es handelt sich hier um eine auffällige Erhöhung, der man nachgehen müsste." (Höber)

Diese Zahlen ließen sich jedoch noch weite präzisieren und damit Rodewald zu einem ganz spezifischen Krebscluster werden. Bei den unter 40-jährigen handelte es sich so vor allem um vier kranke Kinder in Rodewald, die zwischen 1987 und 2014 an Leukämie erkrankten. Hinzu kamen noch zwei weitere Fälle in der Samtgemeinde Steimbke.  

Diese Leukämie bei Kindern, wobei es sich in 80 % aller Fälle um die akute lymphatische Leukämie (ALL) handelt, ist die häufigste Krebserkrankung in der Altersgruppe der unter 15-Jährigen. In Deutschland erkranken pro Jahr etwa 1.800 Kinder in diesem Alter an Krebs, von denen etwa jedes dritte Kind Leukämie hat. Eine besondere Aufmerksamkeit hat die kindliche Leukämie durch eine starke Konzentration im Leukämiecluster Elbmarsch erhalten, wo in der Samtgemeinde Elbmarsch und im benachbarten Geesthacht seit dem Frühjahr 1986  jährlich etwa ein Fall auftritt. Damit handelt sich nach Aussage von EU-Behörden um die weltweit höchste erfasste Leukämierate auf kleinem Raum bei Kindern und gleichzeitig um den am besten erfassten und dokumentierten Cluster weltweit.

Der Fernsehbericht des NDR blieb nicht ohne Wirkung, zumal sich die nackten Zahlen durch die Schilderung individueller Leukämiefälle illustrieren ließen. Auch konnte man eine mögliche ökologische Ursache benennen, die zwar im konkreten Fall bereits einige Zeit zurücklag, aber im Zusammenhang mit dem Fracking und einer angekündigten Wiederaufnahme der Erdölförderung in Rodewald politisch heiß diskutiert wurde.

Der Landkreis Nienburg ging mit diesen Recherchen professionell um, wobei er auf die inzwischen gesammelten Daten der Krebsregister zurückgreifen konnte. Das sind in diesem Fall das bereits 1980 gegründete Deutsche Kinderkrebsregister (DKKR), und das Epidemologischen Krebsregister Niedersachsen (EKN), das seit 2003 Meldungen zu neu diagnostizierten Tumorerkrankungen sammelt und auswertet. Dort werden inzwischen seit 2005 Jahr für Jahr die Erkrankungen und Todesfälle erfasst, sodass sich die auswertbare Fallzahl auch in kleineren Gebietseinheiten erhöht hat. Dadurch liegen wegen der langen Latenzzeiten sogar für einzelne Krebserkrankungen Datenmengen vor, die mit ähnlichen regionalen Umweltsituationen im Bereich von Wasser, Luft und Boden als möglichen gefährlichen Expositionen verbunden sind.


Benzol als mögliche Ursache

In Rodewald hatten zahlreiche Einwohner nicht nur eine Häufung der insgesamt relativ seltenen Fälle von Leukämie bei Kinden beobachtet, sondern sie vermuteten für diese Erkrankungen eine Ursache in der Umwelt: die Gemeinde Rodewald ist jedenfalls nicht nur typisches niedersächsisches Bauernland, sondern auch Teil des norddeutschen Fördergebietes für Erdgas und Erdöl. Eine mögliche Ursache sieht man daher in einer Kaltgasfackel auf dem Betriebsplatz Suderbruch, für die 1988 ein TÜV-Gutachten eine stark erhöhte Benzolemission festgestellt hat. Die Umweltaktivistin Kathrin Otte vom Gemeinnützigen Netzwerk für Umweltkranke (GENUK) spricht dabei von einer Emission, die bis 1989  "um über das Dreihundertfache über dem Benzol-Grenzwert von fünf Milligramm pro Kubikmeter Luft" gelegen haben soll.


                                    TÜV-Gutachten von 1988


                                   Quelle: NDR-Video "Ölförderung: Gefahr für die Anwohner?" 



Die verantwortliche Substanz sollte daher Benzol sein. Dieser Kohlenwasserstoff, der in kleineren Mengen im geförderten Erdöl vorkommt, spielt in der petrochemischen Industrie eine wichtige Rolle, da er für die Synthese vieler Verbindungen benötigt wird. Benzol ist also ökonomisch wichtig und medizinisch giftig. So schädigt eine langzeitige Aufnahme kleinerer Benzolmengen die inneren Organe und das Knochenmark. Daraus resultiert einer Abnahme der Zahl der roten Blutkörperchen, was zu Herzklopfen, Augenflimmern, Blässe, Kopfschmerzen, Müdigkeit und Schwindel führt. Die Schädigung und Mutation der blutbildenden Zellen kann auch das Risiko von Leukämieerkrankungen erhöhen.

Viele der an Leukämie erkrankten Dorfbewohner leben oder lebten in der Nähe des ehemaligen Betriebsplatzes der Erdölfirma BEB Erdgas und Erdöl GmbH & Co. Dort wurde das gesammelte Öl gereinigt und wieder abtransportiert. 

Dabei soll über ein Ausblasrohr das im Öl enthaltenes Gas in die Umgebung abgeben worden, wodurch bis 1989 krebserregendes Benzol in die Umwelt gelangte. Während dabei damals fünf Milligramm Benzol pro Kubikmeter Luft erlaubt war, sollen laut dem TÜV-Berichts aus dem Jahr 1988 bis zu 1.890 Milligramm pro Kubikmeter aus dem Rohr ausgestoßen worden sein.

Dieser stark kontaminierte Betriebsplatz wird seit Deze
mber 2014 saniert. Dabei wurden, wie aus einem Gutachten hervorgehen soll, das der NDR-Redaktion
vorliegt, teilweise stark erhöhte Benzolwerte im Boden und im Grundwasser ermittelt. So lag beispielsweise die Benzolkonzentration des Grundwassers im Jahr 2013 bei bis zu 1.200 Mikrogramm pro Liter, während bereits bei Werten ab fünf und zehn Mikrogramm Maßnahmen ergriffen werden müssen.(HAZ)

Allerdings wurden in anderen Kontaminationsgebieten auch noch höhere Konzentrationen ermittelt. Das gilt für das Tanklager Farge, wo im Tanklager an einem Verladebahnhof sogar 5.100 Mikrogramm pro Liter und außerhalb des eingezäunten Tanklagers 1.300 Mikrogramm pro Liter gemessen wurden. Hinzu kommt hier noch eine sehr hohe Belastung durch BTEX, einen Oberbegriff, zu dem neben Benzol auch weniger giftige aromatische Kohlenwasserstoffe wie Toluol, Ethylbenzol und Xylol zählen.


            Erdölpumpe im Wappen der Samtgemeinde Steimbke


                                                        Quelle: wikipedia


 

Die politischen Reaktionen auf den NDR-Bericht




Offenbar war nicht jeder Lokalpolitiker in der Samtgemeinde Steimbke und ihrer Mitgliedsgemeinde Rodewald von der NDR-Sendung begeistert, da es hier nicht zuletzt um anstehende Investitionen der Wintershall Holding GmbH, die Anfang 2015 eine Wiederaufnahme der Erdölförderung  und damit die weitere Entwicklung der Region angekündigt hatte.






                           Quelle: Factsheet der Wintershall


Nachdem Anfang des Jahres der Samtgemeindebürgermeister die Stimmung gegenüber einer weiteren Ölförderung in seiner Gemeinden noch "positiv" gesehen hatte, gab es im Anschluss an die NDR-Sendung einen akuten Informationsbedarf. So setzte der selbst aus Rodewald stammende Samtgemeindebürgermeister gleich
am Donnerstagabend nach der NDR-Sendung vom Montag den Gemeinderat offiziell in Kenntnis. Danach stellte er in der Lokalzeitung "Die Harke" fest: „Die Betroffenheit war groß, aber die Menschen gehen verantwortungsvoll mit den Fakten um“. Generell warnte er dabei vor „Panik und Hysterie.“ und machte ich für eine "gewisse Grundgelassenheit" stark. (H 2015)  
 
Der als möglicher Verursacher betroffene K
onzern-Tochter ExxonMobil Production Deutschland Gmb, zu dem seit 2002 die Explorations- und Produktionsaktivitäten der BEB gehören, wies auf den schwierigen Rückschluss von räumlich aggregierten Krankheitsdaten auf spezifische individuelle Krankheitsursachen hin, bei denen "auch andere Faktoren, beispielsweise Verkehr, Rauchen, Pestizide, Strahlung oder Alkohol als Auslöser ... für die Erkrankungen infrage kämen." Gleichzeitig stellte der Pressesprecher die Ergebnisse eines "regelmäßigen Bio-Monitoring, das insbesondere auch Benzol umfasst" heraus. Dazu wurde von der zuständige Berufsgenossenschaft bestätigt, "dass keine Erkrankungsfälle bei aktiven, ausgeschiedenen oder pensionierten Mitarbeitern von ExxonMobil gemeldet sind, die in der untersuchten Region tätig sind oder waren.“

Auch Rodewalds Bürgermeisterin, die der Wählergemeinschaft Rodewald angehört, wollte in einem Gespräch mit der Lokalzeitung "Die Harke" die Fernsehsendung nicht überbewerten, da sie auf den Bericht noch nicht angesprochen worden sei und es auch keine akuten Leukämiefälle in ihrer Gemeinde gebe. 

Zudem hatte sie den Eindruck, dass ExxonMobil weit darüber hinaus saniert, was der Kreis gefordert hätte. So wie in den 80-er Jahren auf dem BEB-Betriebsplatz gearbeitet worden sei, sei leider Standard gewesen, sodass „ExxonMobil ...dafür nicht verantwortlich“ sei. Für sie sollte der Bericht daher keinen Einfluss auf die Probebohrung haben, die der Energiekonzern Wintershall rund 500 Meter vom Betriebsplatz entfernt vorbereitete; denn die Bürgermeisterin war überzeugt: „Das wird eine sorgfältige Probebohrung – nach dem Stand der heutigen Technik“.

Nicht zuletzt wies sie auf eine fünf Jahre zürückliegende Anfrage des Gemeinderats zu den damals bereits bekannten Leukämiefällen hin, die allerdings ohne eine NDR-Sendung auskommen musste und bei denen nach der Prüfung durch der Landkreis "keine Auffälligkeiten vorgelegen hatten".

Eine weniger beschwichtigende Position bezogen ein Landtagsabgeordneter der Grünen, die in der rot-grünen Koalition für den Umweltschutz und die Energie zuständig sind, aber nicht den Bereich Soziales und Gesundheit, sowie die oppositionelle CDU. Dabei wurden die Akzente unterschiedlich gesetzt, da es kaum einen Politiker gibt, der seine eigenen Parteifreunde in Bedrängnis bringen will.

Der grüne Landtagsabgeordnete und Direktkandidat für den Wahlkreis Nienburg-Nord Helge Limburg forderte daher von den "
Gesundheitsbehörden in Kreis und Land" eine rasche Untersuchung. Da Benzol "bekanntermaßen stark krebserregend und .. Auslöser für Leukämie sein" kann, "drängte" sich für ihn "angesichts der Nähe zu bekannten Altlasten und hoher Benzolemissionen aus der örtlichen Ölförderung" "ein Zusammenhang auf." Er erwartete daher, "dass Exxon die Aufklärung unterstützt und Verantwortung übernimmt, auch für mögliche Gesundheitsschäden in Folge der Altlasten."

Vor allem „schnelles Handeln" und mehr Transparenz forderte der Vorsitzende des CDU-Samtgemeindeverbandes Steimbke, um die Ursache der unerwarteten Zahl von Krebserkrankungen zu ermitteln“. Daher beantragte der Vorsitzende der CDU-Fraktion im Rat der Gemeinde Rodewald, das Thema auf die Tagesordnung zu setzen und erwartete von der Verwaltung, dass sie alle bisherigen Erkenntnisse offen legt“. Zwar lag für ihn die  Vermutung nahe, "die Erkrankungen könnten im Zusammenhang mit der früheren Ölförderung vor Ort stehen"; aber er sprach sich gleichwohl gegen ausschließlich einseitige Ermittlungen aus.

Kritik galt auch den Behörden, da die Anwohner des ehemaligen BEB- Betriebsgeländes noch nicht einmal die festgestellten Messwerte erfahren hatten. Für die lokalen CDU-Vertreter mussten daher die Gesundheitsbehörden "zügig in die Strümpfe kommen". Dadurch sollten die Menschen in Rodewald die nötige Klarheit darüber erhalten, "ob eine Gefährdung weiter besteht", sodass sie sich "wieder sicher fühlen können" und "keinen Gefahren ausgesetzt" sind.

Der zuständige Landkreis Nienburg mit einem parteilosen hauptamtlichen Landrat an der Spitze nahm den Hinweis auf die häufigen Leukämieerkrankungen sehr ernst und wurde auch umgehend aktiv.  


Die Organisation der Krebsanalysen

 
Trotz der unterschiedlichen Akzentsetzungen bestand Konsens über eine weitere Aufklärung der ersten Befunde. Daher richtete der Landkreis Nienburg im Gesundheitsamt eine Arbeitsgruppe ein, an der auch neben den zuständigen staatlichen Instanzen, d.h. unter Einbindung des Nie­dersächsischen Ministeriums für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung (MS), 

- die kom­muna­len Gesundheitsbehörden, 
- der Samtgemeindebürgermeister von Steimb­­ke, 
- der Bürgermeisterin von Rodewald
- das Niedersächsischen Landesgesundheitsamtes (NLGA) und 
- der Vertrauensstelle des Epidemologischen Krebsregisters Niedersachsen (EKN)  

auch als Nichtregierungsorganisation das Gemeinnützige Netzwerk für Umweltkranke e. V. (GNUK), das sich selbst als Netzwerk unabhängiger Selbsthilfeorganisationen versteht, beteiligt wurde.  

Diese Arbeitsgruppe hat gemeinsam zwei Anfragen erarbeitet. Davon ging die erste aufgrund der Fälle von Krebserkrankungen bei Kindern an das Deutsche Kinderkrebsregister (DKKR) und die zweite an das Epidemologischen Krebsregister Niedersachsen (EKN), um die Daten des Krebsregisters für die Gemeinde Rodewald und die Samtgemeinde Steimbke auszuwerten.

Ergänzend sollen individuelle Krankheitsgeschichten erhoben werden, damit anschließend Experten "die Krankheitsverläufe genau analysieren" können. Auf diese Weise will man nach vergleichbaren Mustern suchen, um eventuell einen Zusammenhang mit dem ausgetretenen, krebserregenden Benzol herstellen zu können.  


Signifikant erhöhtes Leukämierisiko bei Kindern



      Fotos eines erkrankten Jungen 
   Quelle: NDR-Video "Ölförderung: Gefahr für die Anwohner?"


Die Arbeitsgruppe des Landkreises Nienburg hatte das EKN darum gebeten, eine Anfrage an das Deutsche Kinderkrebsregister über die Häufigkeit kindlicher hämatologischer Krebsneuerkrankungen zu stellen. Bereits im Dezember 2015 teilte das Deutsche Kinderkrebsregister aus Mainz seine Ergebnisse mit.






                                               Quelle: Kieschke/ Sirri, Titelblatt.


Aufgrund der Anfrage des Landkreises Nienburg mit seiner entsprechenden Arbeitsgruppe hat das EKN in Oldenburg die zu betrachtenden Diagnosegruppen, den Untersuchungszeitraum und das Untersuchungsgebiet mit seiner Vergleichsregion festgelegt. Danach sollte für die Samt­gemeinde Steimbke und die Gemeinde Rodewald untersucht werden, ob für hämato­logische Diagnosen (ICD-10 C81-C96) über den Zeitraum von 2005 bis 2013 im Vergleich zum ehemaligen Regierungsbezirk Hannover eine erhöhte Krebshäufigkeit vorliegt. Diese Auswertungen wurden zusammengefasst für alle Altersgruppen und beide Geschlechter erbeten.

Diese Anfrage hat das EKN auf eine präzise wissenschaftliche Fragestellung konzentriert. Die Forscher testeten sowohl für die Gemeinde Rodewald als auch die Samtgemeinde Steimbke die Nullhypothese: "Die Anzahl an hämatologischen Krebsneuerkrankungen für alle Altersgruppen und beide Geschlechter zusammengefasst, ist ... kleiner oder gleich der erwarteten Fallzahl“. (Kieschke/ Sirri, S. 8).

Dabei kamen die Forscher zu dem Abschlussergebnis, dass "die Erkrankungsrate zwar erhöht, jedoch nicht als statistisch auffällig einzustufen" ist. Dabei werden den registrierten 19 bzw. zunächst revidierten 20 Erkrankungen 12,7 erwartete Leukmiefälle gegenübergestellt.

Diesen ersten Befund relativieren sie jedoch durch eine Sensitivitätsanalyse, die sich mit den Auswirkungen verschiedener Verteilungsannahmen auf das Ergebnis beschäftigt. Dabei geht es um drei kleinräumig nicht zuordenbare Fälle. Falls nicht einer, sondern zwei Rodewald zugerechnet würde, wäre "die Erhöhung in der Gemeinde Rodewald unter Berücksichtigung der Gesamtirrtumswahrscheinlichkeit als signifikant einzustufen". Es besteht also so etwas wie ein fast signifikantes Ergebnis.  

Allerdings halten die Krebsexperten des EKN aus Oldenburg weitere Untersuchungen für notwendig, da die Signifikanz von einem einzigen umstrittenen Fall abhängt und sich Rodewald in mehrfacher Hinsicht als teilweise rätselhaftes Krebscluster darstellt.

Das ist zwar zunächst einmal kein sensationelles Resultat, da es den Ergebnissen zahlreicher anderer Studien der Krebsregister entspricht, die ebenfalls die statistische Signifikanz von Krebsfällen geprüft haben, die nach dem Eindruck von Betroffenen, Einwohnern und Bürgerinitiativen überzufälllig häufig aufgetreten sind.

Aber es gab dennoch zwei Besonderheiten, denn einerseits haben die Statistiker ihr Ergebnis selbst relativiert, da es von einer nicht völlig unumstrittenen Einordnung eines einzigen Falles abhängt, und andererseits machten sie im Zuge weiterer Auswertungen eine Reihe überraschender Entdeckungen.

 

Die überraschenden Ergebnisse der Subgruppenanalyse

  
Neben dieser vom Auftraggeber gewünschten Gesamtanalyse haben sich die Wissenschaftler noch mit einer Subgruppenanalyse beschäftigt, für die zwar nur geringe Fallzahlen und damit nur eingeschränkte Signifikanzchancen bestehen, aber spannende Hinweise auf mögliche Zusammenhänge und damit spannende weitere Forschungsfragen erkennbar werden.

Betrachtet man die vier Untergruppen, für die das Krebsregister eine spezielle Auswertung durchgeführt und veröffentlicht hat, fällt die relative Häufigkeit der Übererkrankungsfälle auf. Lässt man zunächst einmal die absolut kleine Fallzahl außer Acht, bestehen deutliche Differenzen zwischen der tatsächlich erfassten Zahl an Neuerkrankungen und denen, die bei einem Krebsrisiko wie es im Regierungsbezirk Hannover zu erwarten wären. Das trifft für das Geschlecht (Kieschke/ Sirri, S. 21), die Diagnosejahrgänge (Ebenda, S. 22) und vor allem die Form der Krebserkrankungen oder Lokalisationen (Ebenda, S. 23) und das Alter der Erstdiagnose zu (Ebenda, S. 20).


Das erhöhte Krebsrisiko für verschiedene Bevölkerungsgruppen in Rodewald
Merkmal
Neuer-krankungen
Erwartete Neuerkran-kungen
Übererkran-kungsfälle
Relative Häufigkeit der Übererkrankungsfälle
Frauen
10
6
4
0,67
Diagnosejahrgang 2005-6
5
2,7
2,3
0,85
Multiples Myelom
7
2,2
4,8
2,18
45 – 59 Jahre
7
2,1
4,9
2,33
Quelle: Kieschke/ Sirri, S. 20 ff. und eigene Berechnungen.



Da bei diesen niedrigen Fallzahlen und den häufigen Auswertungen ohne eine theoretische Begründung für Zusammenhänge prinzipiell rein zufällig Ergebnisses auftreten können, die keine reale Bedeutung besitzen, erscheint es zweckmäßig, die Werte mit denen anderer Regionen zu vergleichen. Dadurch lässt sich dieser Zufallseffekt weitgehend anschalten, wenn ähnliche Ergebnisse auch in Vergleichsregionen bei ähnlichen Expositionen auftreten und zudem noch ein generelle Verursachung durch eine Chemikalie nachgewiesen wurde, die ein vergleichbares Risikoprofil für Krebserkrankungen aufweist.

Das gilt für die Krebsfälle in der Gemeinde Bothel und dem gesamten Landkreis Rotenburg, die ebenfalls vom EPN analysiert wurden und wo ebenfalls eine Abhängigkeit für ein erhöhtes Krebsrisikos von Benzol und anderen Kohlenwasserstoffen vermutet wird.

Im Hinblick auf diesen Vergleich ist das erhöhte Krebsrisiko für Frauen in Rodewald ein besonderes Rätsel, da für Bothel besonders viele Krebserkrankungen bei Männer festgestellt wurden. Das lässt sich dort möglicherweise durch einen längeren Aufenthalt im Freien und damit eine stärkere Exposition mit dem karzinogenen Kohlenwasserstoff erklären. Nur müsste man jetzt für Rodewald ein völlig abweichendes geschlechtsspezifisches Verhalten unterstellen. 

Ähnlich schwer interpretierbar und damit rätselhaft und möglicherweise rein zufällig ist das relativ hohe Krebsrisiko für die Erhebungsjahrgänge 2005 und 2006. Hier lässt sich jedoch erkennen, dass das Risiko im Laufe der Jahre seitdem zurückgegangen ist und in den letzten Jahrgangsgruppen seit 2009 sogar unter den Durchschnittswert des Regierungsbezirks Hannover gefallen ist. Man kann hier also von einer Entwarnung sprechen, wodurch die These gestützt wird, dass zeitversetzt nach der Stilllegung des Betriebsplatzes Suderbruch das Risiko für Krebserkrankungen deutlich gesunken ist.  

Von den Zahlen her bedeutsamer und von inhaltlich besser erklärbar sind die Auswertungen für die Krebslokalisationen und die Altersgruppen. Danach konzentrieren sich die Neuerkrankungen auf das Multiple Myelom (MM), das fast ausschließlich bei älteren Menschen diagnostiziert wird. 

Auch ähnliche Befunde für Gebiete, in denen eine Kontamination durch Kohlenwasserstoffe untersucht wird wie die Gemeinde Bothel und weitere Gemeinden des Landkreises Rotenburg sowie die Ortsteile Farge und Rönnebeck in Bremen-Blumenthal, wo sich eine Fahne aus giftigen Kohlenwasserstoffen unter einem Tanklager der Bundeswehr ausbreitet, bestätigen einen möglichen Zusammenhang. Das spricht, auch wenn aufgrund der begrenzten Einwohnerzahl der Gemeinde Rodewald und der Konzentration der Krebserkrankungen auf einen engeren Bereich um den Bohrplatz Suderbruch die Fallzahlen relativ klein sind, für ein statistisch (fast) gesicherten Zusammentreffen von freigesetztem Benzol und Erkrankungen an Multiplen Myelomen.



             Auswertung des EKN für verschiedene Diagnosegruppen
        Quelle: Kieschke/ Sirri, S. 23




Nach den absoluten Zahlen besteht damit das Rodewalder Leukämie-Problem vor allem in einem erhöhten Risiko, in dieser Gemeinde an einem Multiplen Myelom zu erkranken. Im Zeitraum 2005 bis 2013, also in neun Jahren, traten hier sieben Fälle auf, während es bei einer durchschnittlichen Erkrankungshäufigkeit nur 2,2 Fälle sein durften. Diese kaum heilbare Krankheit bleibt damit, möglicherweise wegen der langen Latenzzeit, weiterhin ein Gesundheitsrisiko.

Das scheint nicht mehr in dem ursprünglichen Maße für die Krebserkrankungen zu gelten, die erst die Aufmerksamkeit auf ein Leukämiecluster Rodewald gelenkt haben. Auch anhand der Registerdaten aus dem letzten Jahrzehnt sind die Leukämiefälle bei Kindern weiterhin überzufällig häufig, wie die Tabelle des ERN und die Antwort des DKKR ausweisen. Hier stehen für diesen Zeitraum zwei diagnostizierte Fälle nur 0,3 erwarteten Neuerkrankungen unter durchschnittlichen Rahmenbedingungen gegenüber. Das ist absolut nicht viel, vergrößert sich jedoch als subjektiver Eindruck ganz erheblich, wenn man den relativen Wert betrachtet. Aufgrund einer "normalen" Häufigkeit nahe Null, liegt der im Krebsregister erfasste beim 6,6-fachen, und das ist erheblich mehr als das 2,18-fache beim Multiplen Myelom.


Auch wenn die Experten des EKN das Erkrankungsrisko für Leukämie in der Gemeinde Rodewald insgesamt "nicht als statistisch signifikant" einstufen, sehen sie "Hinweise auf ein räumlich-zeitliches Cluster" und unterstützen "damit die bereits angelaufenen Schritte für eine vertiefende Evaluation".  


Geplante Anschlussuntersuchungen


Strittig bleibt, ob ein Zusammenhang mit der früheren Erdölförderung in Rodewald besteht. Zumal auch das EKN "Hinweise für ein räumlich-zeitliches Cluster" sieht, hält man eine "genauere Untersuchung für notwendig". 


Da die bisherigen statistischen Auswertungen über kleinräumige Krebshäufigkeiten keine Aussagen zu den Ursachen der individuellen Erkrankungen erlauben, sollen jetzt die Betroffenen befragt werden, um so "mögliche Muster zu erkennen". Damit dürfte das Landesgesundheitsamt Fragen zu einer möglichen Benzolexposition meinen, um die Kette zwischen giftigen Emissionen und ihrem Eindringen in menschliche Körper zu schließen, wo sie zu den jeweils typischen malignen Zellmutationen geführt haben. 

Zudem plant der Landkreis Nienburg weitere Bodenuntersuchungen auf dem ehemaligen Betriebsgelände. Die sollen vor allem als Absicherung dienen, da die Behörden bei der Belastung des Bodens und des Wassers bislang nicht von einer Gefährdung für die Anwohner ausgehen, sondern eine mögliche Exposition im Abfackeln von Gas sehen, wodurch Anwohner mit der Luft Benzol oder andere karzinogene Stoffe eingeatmet haben. Daher will man ebenfalls eine sogenannte Immissionsprognose - insbesondere für das krebserregende Benzol - erstellen lassen.


     Position des Samtgemeindebürgermeiseters zu den EKN-Ergebnissen
                                        Quelle: Facebookseite von "Die Harke"


 

Quellen:


GENUK-Pressemitteilung, Signifikante Häufungen von kindlichen Leukämien im Öl-Fördergebiet Rodewald sowie der Samtgemeinde Steimbke Kreis Nienburg. 17.12.2015.

GENUK-Pressemitteilung, Häufungen von hämatologischen Krebserkrankungen im Öl-Förderdorf Rodewald, Kreis Nienburg 11.04.2016

Höber, Alexa, Giftiges Benzol: Leukämiefälle in Rodewald, 
NDR vom 20.09.2015.
 

Kieschke, Joachim und Sirri, Eunice, Auswertung des EKN zur Häufigkeit von hämatologischen Krebsneuerkrankungen in der Samtgemeinde Steimbke und der Gemeinde Rodewald, Oldenburg, April 2016. 

NN, Rodewald. Auch ohne Fracking: Exxon will Öl fördern, in: HAZ vom
31.01.2015.


NN, Rodewald. Leukämie-Häufung ist deutlich, in: HAZ vom 18.12.2015.

Reuter, Helmut, Erhöhte Krebsraten in Rodewald. Die Behörden reagieren, prüfen und bestätigen nun den Verdacht. Nur die Ursache ist aber weiterhin unklar, in: Die Welt vom 12.4.2016.

Riek, Wolfgang, Weitere erhöhte Krebsrate in niedersächsischer Gemeinde, in: HNA vom 11.04.16.

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